Online-Sucht


 

WAS SIND STOFFLICHE UND NICHTSTOFFLICHE SUCHTMITTEL?

Die Wissenschaft definiert verschiedene Suchtkriterien und unterscheidet zwischen stofflichen und nichtstofflichen Suchtmitteln. Typische Suchtkriterien sind Verlangen, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung, Kontrollverlust, Interessenverlust und sozialer Rückzug. Beispiele für stoffliche Suchtmittel sind Nikotin, Alkohol, Beruhigungs- und Schmerzmedikamente, Amphetamine, Cannabis, Ecstasy, LSD, Opiate (Heroin, Morphine) und Kokain. Neben stofflichen gibt es nichtstoffliche Süchte, die sich in dem Drang äußern, bestimmte Aktivitäten auszuüben. Beispiele sind der zwanghafte Drang zum Glücksspiel, Einkaufen, Sammeln und Horten, Arbeiten, Sport und Sex. Als vergleichsweise neue nichtstoffliche Abhängigkeiten gelten Online-Spielsucht und insbesondere Online-Sucht.

Stoffliche Suchtmittel sind im Gegensatz zu nichtstofflichen Suchtmitteln deutlich länger und damit besser erforscht. In der Wissenschaft sind stoffliche Süchte seit langem gut beschrieben und klinisch definiert. Es gibt daher ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten. Oft treten mehrere stoffliche Suchtmittel gleichzeitig nebeneinander auf (Nikotin, Alkohol, Medikamente, Opiate etc.). Für nichtstoffliche Suchtmittel hingegen ist die Diagnostik bislang schwächer fundiert und Behandlungsmöglichkeiten sind weniger erprobt. Aus diesem Grund sind Begriffe wie „Online-Sucht“ noch nicht in dem Maße in den Köpfen der Menschen verankert wie z. B. Alkohol- und Schmerzmittelsucht.

Typischerweise kommt es zu einem Zeitversatz von zehn bis fünfzehn Jahren zwischen dem Auftauchen und der Anerkennung eines neuen Krankheitsbildes. Der Zyklus der ICD (International Classification of Diseases, World Health Organization) beträgt zehn bis fünfzehn Jahre. Die aktuelle ICD-11 trat im Jahr 2022 in Kraft. Für das DSM (Diagnostic and Statistical Manual, American Psychiatric Association) beträgt der Zyklus zehn bis zwanzig Jahre. Das aktuelle DSM-5 stammt aus dem Jahr 2013.

Online-Spielsucht ist mittlerweile als Diagnose anerkannt und in ICD-11 und DSM-5 aufgenommen. Online-Sucht hingegen ist noch nicht offiziell als Krankheitsbild anerkannt. Eine problematische Nutzung von Online-Computerspielen („Internet gaming disorder“) liegt dann vor, wenn lange Dauer und klare Verhaltensstörungen kombiniert auftreten. Das DSM-5 beinhaltet seit 2015 einen Kriterienkatalog für Online-Spielsucht (fünf von neun Kriterien sollten über zwölf Monate erfüllt sein). Im Gegensatz zur ICD ist Online-Spielsucht im DSM-5 bislang nur als Forschungsobjekt und nicht als eindeutiges Krankheitsbild klassifiziert. Bis zur Aufnahme der Online-Sucht in ICD und DSM werden voraussichtlich zehn bis zwanzig Jahre vergehen.

Ein bekannter Selbsttest zur Feststellung von Online-Sucht ist der CIUS-Fragebogen (Compulsive Internet Use Scale, siehe Abb. 1). Hiermit kann jeder selbst herausfinden, ob das eigene Internetverhalten über Computer, Tablet, Smartphone und andere Endgeräte als problematisch anzusehen ist. Der Test besteht aus vierzehn Fragen. Für jede Frage gibt es fünf Antwortmöglichkeiten, bei denen zwischen 0 (Antwort „nie“) und 4 Punkten (Antwort „sehr häufig“) vergeben werden. Die Punktewerte werden am Ende aufsummiert. Bei 20 bis 27 Punkten liegt ein problematisches Online-Verhalten vor. Bereits ab einem Wert von 28 aus 56 möglichen Punkten wird die Abklärung durch eine Suchtberatungsstelle empfohlen.

Abb. 1: Compulsive Internet Use Scale (CIUS) nach Meerkerk et. al (2009)


WARUM IST ONLINE-SUCHT EIN GLOBALES PHÄNOMEN?

Wissenschaft und Internetindustrie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Phänomen „Online-Sucht“ und ihren verschiedensten Ausprägungen. Es existieren zahlreiche Studien, Artikel und Indizien. Nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben gibt es angesichts der geringen Zeitspanne des Auftretens von Online-Sucht noch keine formale Anerkennung. Um ein problematisches Online-Verhalten festzustellen, schaut man im Allgemeinen auf Themen wie Nutzungsdauer, Kommunikationsverhalten (z. B. in sozialen Netzwerken), Kaufverhalten und Sexualverhalten.

Seit ca. fünfzehn Jahren nutzen breite Bevölkerungsschichten das Internet. In den letzten fünf Jahren lässt sich jedoch ein starkes Wachstum der mobilen Internetnutzung beobachten. Ein Grund hierfür ist die weite Verbreitung des Smartphones in Verbindung mit hohen Übertragungsgeschwindigkeiten im Mobilfunk (3G, 4G).

Ein Meilenstein für das mobile Internet war die Vorstellung des iPhones im Jahr 2007. Die weltweite Smartphone-Nutzung wuchs seitdem kontinuierlich an, zwischen 2016 (50 %) und 2021 (82 %) ist der Anteil der Smartphone-Besitzer nahezu explodiert. Die Anzahl der Facebook-Anwender lag im Jahr 2007 bei rund 50 Millionen. Bis 2016 stieg die Nutzerzahl auf 1,8 Milliarden und bis 2021 sogar auf 2,7 Milliarden an (2021 sind 60 % aller Internetnutzer weltweit bei Facebook registriert, 85 % davon nutzen Facebook nur mobil). 4G/LTE hat sich als globaler Standard etabliert und die mobile Internetnutzung revolutioniert. Der 5G-Roll-out hat bereits begonnen. Das starke Wachstum der Internetindustrie lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass sie wenigen bis gar keinen Regulierungen unterliegt.

Es existieren zahlreiche Studien, die sich mit den problematischen Auswirkungen übermäßiger Online-Nutzung auseinandersetzen. Demgegenüber gibt es bislang sehr wenige Arbeiten, die positive Effekte (z. B. von Online-Lernmedien) beschreiben und nicht aus dem Umfeld von Anbietern dieser Dienstleistungen stammen.

Bei einer Diskussion über das kontroverse Thema „Online-Sucht“ kann es helfen, sich die grundsätzliche Frage zu stellen: „Woran muss ich glauben?“ Nehmen wir das Beispiel „Online-Sucht bei Kindern und Jugendlichen“. Woran müsste ich z. B. glauben, wenn mir jemand sagen würde, dass Online-Sucht für diese Altersgruppe kein Problem darstelle? In diesem Fall müsste ich die folgenden Aussagen für richtig halten: „Drei bis vier Stunden Social Media, zwei bis drei Stunden Online-Spiele, mehr als 100 Nachrichten täglich sowie die Nutzung der sozialen Netzwerke zur Emotionsbewältigung (Langeweile, Sorgen, Stress, Realitätsflucht, Wut) sind eine gute Sache für Kinder und Jugendliche. Ein solches Online-Verhalten hat positive und gewünschte Effekte auf die Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Kompetenz in einer für die Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung äußerst wichtigen Lebensphase.“ Wer würde diese Aussagen ohne Vorbehalte unterschreiben? Wahrscheinlich nur sehr wenige Mitmenschen.

Fast die gesamte Menschheit ist derzeit auf der Online-Droge, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Dieser Umstand erschwert das Problembewusstsein und die Entwicklung von Maßnahmen zur Beseitigung des globalen Phänomens „Online-Sucht“. In den Industriestaaten nutzen mittlerweile 95 bis 100 % der Personen unter sechzig Jahren mobiles Internet. Aus gruppendynamischen Gründen lässt es sich schlecht über Drogen reden, die nahezu „jeder“ auf irgendeine Weise konsumiert. Letzten Endes bedarf es eines Problembewusstseins auf individueller Ebene. Hierfür ist das intellektuelle und emotionale Akzeptieren von Handlungsbedarf notwendig.

Der Handlungsdruck ist hoch, denn das Warten auf eine wissenschaftliche Anerkennung von Online-Sucht als individuelles und letztlich globales Problem in ca. zehn Jahren ist eine riskante Strategie. Der Nobelpreisträger Christian Lange hat in seiner Friedensnobelpreis-Ansprache 1921 den denkwürdigen Satz gesagt: „Technologie ist ein nützlicher Diener, aber ein gefährlicher Herrscher.“ Schauen wir nun mit der notwendigen innerlichen Distanz auf unser Nutzerverhalten. Betrachten wir die Rolle von Nutzern und Anbietern und stellen wir uns dann folgende Frage: „Ist das Internet noch Werkzeug und Diener (Google Maps, WhatsApp, Online-Reisebuchungen etc.) oder auf dem Weg zum Herrscher, der uns sagt, was wir tun, was wir denken und wie wir unsere Zeit verbringen sollen (Amazon, YouTube, Google, Facebook, Twitter, Instagram, TikTok etc.)?“ Zu welcher Antwort gelangen wir?

Sind wir ehrlich zu uns und gestehen uns ein, dass wir als Individuen und als Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zunehmendes Problem mit der Nutzung der neuen Technologien haben? Oder wenden wir eine Taktik an, welche Sozialpsychologen als „Dissonanzreduktion“ bezeichnen? Bei bestimmten Themen verspüren wir ein Unwohlsein, wenn unser Verhalten unseren Überzeugungen widerspricht (z. B. Tabakkonsum, Fast Food, Klimawandel). Dieser unangenehme Gefühlszustand wird „kognitive Dissonanz“ genannt. Um die Dissonanz wieder aufzulösen, reagieren wir dann mit Selbsttäuschung durch Kleinreden, Relativieren der wissenschaftlichen Erkenntnisse, Entlastung oder Leugnung.